In der Konzeptphase legte Renée die Fäden zu den vielen Menschen, die nach einem Auftrag für die Stadt involviert sein würden. Sie studierte dabei, auf welche Weise sie gebraucht und beachtet werden wollten und auf welche Weise sie selbst sie brauchen wollte. Es waren die Aspekte, die in der Ausschreibung der Gründer ganz unbekümmert unerwähnt geblieben waren, und die – so sah sie es – ihrer beider Leben im Griff haben würden, denn eine Stadt ruft die Egos auf den Plan: Sie lässt sich groß denken. Alles lässt sich in ihr miteinander verbinden. Und jeder darf sich seine Vision aus ihr herausholen – darüber, wie Menschen zu einer bestimmten Zeit leben wollen, wie sie aussehen, mit welchen Autos sie fahren, wo sie einkaufen, wann sie arbeiten wollen, wie sie ihre Häuser bauen, welche Formen sie finden, welche Zeit … das ganze göttliche Spiel.
Renée wollte es zerteilen.
Sie wollte einen Entwurf sehen, der nicht von den ganz großen Egos abhing. Nicht von ihrer Macht über Menschen und ihrer deutlichen Abgrenzung zu anderen Egos. Und sie suchte die möglichst unabhängige Verbindung unter den charakteristischen Teilen einer Stadt: den mathematisch planbaren und den individuellen emotionalen und kreativen Formen. Sie wollte den Entwurf weiblich sehen: die Matrix.
Dana schickte sie dazu hinter die Rechner und Bücher, um zunächst die Verkehrs- und Transportwege der Natur zu untersuchen: die Bewegungen in Flüssen, Adern und Ozeanen, die Energieversorgung in Pflanzen, und all dies mit der Frage: Wie kommen Stoffe mit dem kleinst möglichen Energieaufwand von A nach B?
Das Ergebnis Danas Untersuchung war dieses:
Viele Stoffe kommen innerhalb von Flüssigkeiten von A nach B. Sie fließen dabei durch Einbahnstraßen und immer strikt getrennt von Stoffen größerer und kleinerer Masse. So umgehen sie Turbulenzen.
Flüssigkeiten ändern ihre Fließrichtung nie in Winkeln, die kleiner sind als 100°. Ein Fluss würde an einer 90° Kreuzung einfach vorbei fließen! Und das Geheimnis der Natur für möglichst turbulenzfreien und energiesparenden Flüssigkeitstransport basiert nicht auf besonders ausgeklügelten Systemen, sondern auf der strikten Orientierung an den physikalischen Voraussetzungen.
Mit diesen Ergebnissen setzte sich Dana zu Papier und Stiften an den letzten freien Meter Tisch an Renées Seite, die mit einem Auge und manchmal auch beiden Händen dabei war: Sie skizzierten Blöcke, Verkehrsraster, Kurven und Kreuzungen, die keine waren. Sie definierten Verkehrsformen, Richtungen und Ebenen, setzten Blocks zu Vierteln zusammen und Viertel zu einer Stadt.
Drei Monate, viele gemeinsame Mahlzeiten und sengende Computerstunden später, präsentierten sie den Gründern vor Ort die Matrix einer Stadt – im Hintergrund eine ruhige weibliche Stimme auf Band, die nicht mehr als fünf Regeln vortrug:

1 / Die Verkehrsformen sind in drei horizontalen Ebenen getrennt: 
Nicht motorisiert – motorisiert – massenmotorisiert. In aktuellen Bildern meint das: Menschen – Autos – Metro. Die drei haben unterschiedliche Geschwindigkeiten und Gewichte, gehören also getrennt.

2 / Richtungswechsel innerhalb des motorisierten Verkehrs erfolgen im 120° Winkel, um den Verkehrsfluss aufrecht zu erhalten. Die entsprechenden Kreuzungen verbinden drei Richtungen und leiten Fahrzeuge über eine Kupplung so übereinander her, dass sich ihre Wege nicht schneiden.

3 / Die sich aus den Kreuzungen ergebenden hexagonalen Blocks bilden das Versorgungsraster der Stadt. Ein zentraler Block, zusammen mit den angrenzenden sechs Außenblöcken, bildet eine Versorgungseinheit, die mit allen Verkehrsebenen verbunden ist. Diese Einheit kann wiederum an sechs Ankerpunkten mit anderen Einheiten zu einem Viertel verbunden werden, und diese zu einer Stadt.

4 / Es gibt stadtinternen Verkehr, der zirkuliert und dessen Richtung nicht definierbar ist: Er fließt in einem neutralen, flächendeckenden Raster. Und es gibt externen Verkehr, der die Stadt verlässt oder in sie eintritt und der in der Richtung definierbar ist: Er fließt linear, an Knotenpunkten entlang, in Richtung der Stadtaus- und eingänge.

5 / Die Architektur – der individuelle Lebens- und Arbeitsraum – funktioniert auf der obersten, nicht motorisierten Ebene. Sie ist in ihrer Form und Ausdehnung unabhängig von den anderen Ebenen. Sie ist räumlich nicht an die rasterförmige, motorisierte Verkehrsebene gebunden.

Renée ließ die erklärenden Worte ein paar Sekunden lang einsickern und schloss dann aus dem hinteren, dunklen Off-Bereich: “Die Architektur schwimmt auf dem Verkehrssystem, über die Straßen hinweg. Sie kann atmen und wachsen, wie sie will. Das ist der simple Gedanke der Stadt: Menschen wollen sich auf ihren Wegen begegnen und ihre Umwelt nach ihren Ideen und Vorstellungen verändern, während der Verkehr und die Versorgung nur den gleichbleibenden Regeln der Physik und einer Wirtschaftlichkeit zu folgen braucht. In einem Raster. Getrennt voneinander können sich die beiden Bewegungsformen auf ihre gegensätzliche Weise entwickeln. Und der motorisierte Verkehr ist einfach: Es gibt keine Ampeln, keine Stoppschilder, keine LKWs – nur Einbahnstraßen. Von Haus zu Haus benutzt man die Füße, das Fahrrad, das Skateboard oder eine Rikscha. Das sind im Wesentlichen die Regeln. Wir haben eine kleine wissenschaftliche Abhandlung für sie bereitgelegt, die diese Regeln belegen und die Matrix in den Punkten Energie und Wachstum ausführen. Nach ihr lassen sich die Ebenen mit den Durchbrüchen konstruieren. Bezüglich der Ausbreitung der Stadt ist das heutige virtuelle Modell ein Vorschlag. Es gibt auch andere Möglichkeiten, die aber nur im Rahmen der Funktionen der Stadt diskutiert werden können, also zu einem gesetzteren Zeitpunkt.
Die Infos und Bilder aus dieser Präsentation finden sie im Netz unter der Adresse: Nenuvar.eu – die Seerose. Ihre Zugangscodes bekommen sie zusammen mit einem kleinen Lunch serviert, eingebrannt in die Oberseite der Teller. Die Codes sind nur unter Hitzeeinwirkung sichtbar – sie müssen entweder geschickt essen oder die Teller später noch mal in den Ofen stellen. Sie dürfen die Teller mit nach Hause nehmen. Wenn sie gerne möchten und keine Fragen haben, lasse ich ihr Lunch jetzt kommen. Und ich danke für ihre Zeit und ihr Interesse!”

© 2014 H. E. Haarmann (UBIQE), Esslingen, eBook ISBN 978-3-00-041172-4
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