Leseprobe / Dialog: Dana und Mariann
Nénuvar, Seiten 152-168

Mariann ist vollkommen überrascht von Danas Reaktion, da sie diese Wirkung auf Menschen generell nicht hat. Sie verunsichert nicht. Meint sie. Und sie sieht es auch täglich. Aber in diesen hellblauen Augen schwingt etwas mit, das sie nicht deuten kann. Mariann lässt sich in eine Haltung fallen, die sie eigentlich sehr liebt, die sie aber sonst nur in fernsten Steppen benutzt – in Gegenden, die von wenigen und sehr vorsichtigen Menschen bevölkert werden: Sie lässt ihr Raum und alle Wege offen, macht sogar einen Schritt zur Seite und sieht sie höchst neugierig überall an, im Detail und bis hinunter zu den Schuhen. Und siehe da: Dana kommt ihr einen Fuß weit hinterher getappt.
Dass Mariann unter ihrem leichten sandigen Anzug ein T-Shirt trägt, das man nicht unbedingt den Atomen und den komplexen Werken und Sicherheiten zuordnen würde – ein gelbes Strichmännchen auf Grün  –,  merkt sie erst jetzt: „Was ist das?“ Dana zeigt mit ihrem Finger auf die Nase mitten im Strichgesicht.
„Ich war heute morgen beim Arzt – es ist sein Logo, und er freut sich immer, wenn ich damit aufkreuze.“
„Geht‘s dir gut?“ Zusammen mit ihrer Wahrnehmung darüber, dass es ihr unmöglich ist, diese irgendwie nahbare Frau zu siezen, stopft Dana ihre zwei Hände in die gemütlichen Taschen.
„Mir geht‘s prima, danke. Ich hab mir letztes Jahr in Algerien so ein Wüstenzeug eingefangen und gehe jetzt noch alle paar Monate zum Rückfall-Check. Ist aber alles gut.“
Dana würde ihr am liebsten die Jacke aufpflücken, um das sympathische Männchen ganz zu betrachten. Und da das nicht geht und sie auf dieser körperlichen Basisebene angekommen sind, klemmt sie eben in allerlei Gedanken einen ihrer Finger in das Loch in ihrer Hosentasche.
Cécile hängt inzwischen, sicherlich amüsiert über das Seitenspiel, die paar Meter weiter wieder in der Wand. Die beiden Frauen sehen beiläufig dort hin.
„Es ist noch ein Stückchen vor sieben. Ich wollte euch nicht aus eurer Übung holen. Aber mein Büro ist dort oben.“ Mariann zeigt ein paar Stockwerke nach oben. „Ich habe euch gesehen und bin neugierig geworden. Dein Gesicht kenne ich aus dem Internet.“ Sie grinst bis zu den Ohren dabei, so dass Dana es schon fast wie eine kleine gelungene Frechheit aufnimmt. Aber sie weiß auch, wie sie sich seit einer halben Stunde hier aufgeführt hat und hält lieber ihren Mund, da Mariann ihr wahrscheinlich schön mit den Wüstenschlappen auf dem Schreibtisch dabei zugesehen hat. Überhaupt landet Dana so langsam wieder auf einem kleinen Stück Kontrolle über die eigene Beobachtungsgabe und damit auch wieder bei Renée: Dieser Dame scheint ja ein Altersunterschied von 20 Jahren völlig wurscht zu sein. Warum auch nicht! Renée ist faszinierend.
„Wir können ruhig schon gehen! Die toten Felsen da sind nicht mein Ding.“
Mariann rettet sich nach diesem kleinen Verlust über eine Verbindung, die sie zu Dana hätte haben können, in die Zuversicht: „Dort hinten im Café sind einige Palmen aufgestellt. Oder ich war auch gestern mit Renée Berger in einem Restaurant, das vollkommen zugewachsen war. Deiner Partnerin …“
„Ah.“ Dana weiß, dass es eigentlich ihre Partnerin ist. „Wie kommst du denn auf Pflanzen?“ Dana bekommt die Andeutung von einem friedlichen Lächeln ein ganz kleines bisschen hin, aber ihr steht das angestochene Kind mitten auf der Stirn. Mariann kann ihr jetzt noch ihre offenen Hände anbieten … „Deine Freunde sehen sehr nett aus – möchtest du dich noch von ihnen verabschieden?“
Natürlich sollte sie das. Dana trollt sich mit einem unentschiedenen Blick zwischen Aufmupf und Treue und immer noch mit den zusammengeknäulten Fingern in den Taschen an Marianns Nase vorbei.
Nach der Minute, auf dem Rückweg von Henry, findet sie langsam in ihren geschmeidigen Gang, und vor Mariann angekommen, hört diese auch warum: „Gibt es was mit Musik im Viertel? Mit leiser Musik? Oder mit leiser und lauter Musik?“
Mariann sieht Dana an, dass sie sich dort sicher fühlen wird – vielleicht sogar ein bisschen angriffslustig werden wird. „Der Sulphur Chim hat ein Dach mit einem Club unten drunter. Die Musik ist aus Paris und meist technisch – wir sind hier im AREVA-Land. Aber oben in der Lounge geht es etwas sanfter zu, und es hat Essbares.“
„Gut.“ Sie geht neben Mariann sofort in ihren energiesparsamen Schritt, den sie auch im Schlaf gehen würde. Und Mariann hält auf ihren langen Beinen entspannt mit, aber in Beziehung zueinander laufen die beiden Frauen nicht. Die Meilen und Menschen zwischen ihnen sind gut sichtbar.
Mariann nutzt die Gelegenheit, um einen ihrer Lieblingszüge auszuprobieren: Sie geht ein ganz kleines bisschen langsamer als Dana und guckt mal, wie sie damit umgeht – mit welchem Willen sie zum Beispiel auch langsamer wird oder eben nicht. Sie mag die Körpersprachen unter den Menschen. Sie sind ihr tägliches Handwerkszeug und man sieht ihr eine Bewusstheit darüber gar nicht an. Entsprechend überrascht dreht sich Dana zu dieser langen Frau um, die ganz sicher keinen naturgegebenen Grund hat, hier übers Plateau zu schleichen. Dana bleibt sogar ganz stehen, weil sie es wissen will. Und Mariann zieht fröhlich an ihr vorbei, bleibt nur mit den Augen bei ihr und fragt: „Erinnerst du dich an deinen ersten Tanz?“
Das einzig mögliche Bild dazu fliegt Dana sofort in den Kopf. Es war ihr erster gemeinsamer Tanz. Die anderen zählen für sie nicht. Sie schaut Mariann hinterher, bis auch diese stehen bleibt: „Im Schwarzwald mit Gabriel – er hat das erste Mal versucht mich zu beruhigen!“
Mariann nimmt sich die Zeit und fragt nicht gleich, wie und wer das sei … „Hat er es danach noch mal versucht? Auf andere Weise?“
„Ja. Mit Feuer und mit Sex.“
Mariann kommt die paar Schritte zurück, nur um aufzunehmen, mit wie viel Lust Dana das eigene Aufmüpfig-Sein erlebt. „Du siehst aus, als hättest du an allen drei Stellen triumphiert.“
„Nicht beim Feuer. Feuer macht alleine. Es blendet alles andere aus, finde ich. Und du kennst mich doch noch gar nicht!“ Darauf geht Dana einfach weiter und lässt Mariann stehen.
„Das ist richtig. Aber Menschen lassen sich nicht gerne ruhig stellen, und ich habe deinen Purzelbäumen angesehen, dass du viel Energie verwendest.“ Also setzt auch sie sich wieder in Bewegung.
Darauf braucht Dana nichts zu sagen. Ihre Hände stecken immer noch in den Taschen. Die beiden Frauen sehen sich nur kurz an – immerhin mit einem kleinen Stückchen gewachsenem Respekt über den selbstverständlichen hinaus. Es ist auch nicht mehr weit bis zu den steinig-gelben Schiebetüren des Sulphur Chim. Sie legen die Meter schlicht und still zurück und nehmen den Aufzug bis gan nach oben. Dana läuft in den Club hinein, auf den jungen Barkeeper zu und lässt sich die Cocktails erklären, während Mariann die noch freien Plätze übersieht.
„Möchtest du auch einen?“ Dana fragt sie über ein paar Meter hinweg.
„Ja, bitte – such mir einen aus!“
Sie lassen sich an einem Randplatz nieder, mit Blick über die Stadt und den Club, wobei Dana die Seite wählt, von der aus sie hauptsächlich Mariann vor Augen hat. Ihre Stimmung ist inzwischen auch schon fast bei der Neugier angekommen, und die Musik passt zu einem Gespräch: Sie ist dynamisch, ohne viele Schläge. Dana nimmt sie durch ihre Füße auf und wippt sich unterm Tisch in den Takt hinein. Sie wird noch ein Weilchen brauchen, bis sie überlegt hat, ob sie Mariann auf direktem Wege fragen möchte, in welcher Weise sie sich gestern Nacht von Renée hat verwöhnen lassen. Denn Renée selber – da ist sich Dana so sicher, dass sie fast lachen könnte – wird nicht von blonden, privaten und ein wenig exotischen und nackten Frauen beginnen zu reden.
„Ich mag deinen Anzugstoff!“
Mariann dankt artig mit einem Nicken: „Er ist aus Asien. Meine meisten Anzüge kommen aus Thailand oder Singapur oder Malaysia. Die sind da die Könige der leichten Stoffe. Aber sie sind manchmal weniger robust als die europäischen.“ Ihre langen Beine liegen dazu quer, aber noch gut erzogen und elegant über den seitlichen Gang. Es hat sich in der Stadt eingebürgert, die ersten Treffen nicht mit Geschäftlichem zu verbringen, wenn es sich um eine längere und intensive Zusammenarbeit handeln soll. Und auch so wie der Abend begonnen hat, denken die beiden nicht im Traum daran, heute noch über Atomkraftwerke zu sprechen.
„Ich muss sagen, vom ersten Eindruck – ich wüsste gar nicht, in welche Kleidung ich dich sonst hineinstecken würde.“ Dana sieht sich ihr Gegenüber jetzt erst richtig an: die gestürmten Haare, die geschickten Hände, die gerade in zwei, drei unterschiedlichen Speisekarten herumfingern und diesen Körper, den sie sich ohne Anzug eigentlich nur in einer Werksituation vorstellen kann – beim Restaurieren der Gewölbe und Gänge durch den Vatikan oder vielleicht bei einer Pause vor dem Ofen einer Dampflok, die mit Kohle betrieben wird, und das alles mit diesem weißen Handtuch von gestern nacht und einer Zigarette zwischen den Fingern. Dana lacht automatisch los … „Entschuldigung! Du siehst aus wie eine Handwerkerin voller Gnade. Mir kommen die unmöglichsten Bilder in den Kopf … Warst du schon mal im Vatikan?“
Mariann pickt sich eine Emotion nach der anderen aus Danas Gesicht: „In einem Jahr als der Papst nicht allzu verzweifelt in sein Mikro gekrächzt hat, habe ich mal diese Schlange auf mich genommen, die sich da um die Mauern zieht. Ich fand‘s ganz hübsch dort.“
„Der Papst ist verzweifelt?“
„Na ja, er kann halt nirgendwo hin. Die Welt merkt so langsam, dass all unsere Lebensformen und Weisheiten hausgeschneiderte Entwürfe sind – und viele sind auch klug, aber sie können bei Nichtfunktionieren oder Nichtgefallen eben entlassen und ersetzt werden. Und die Macht seiner katholischen Kirche greift nur bei Menschen, die an etwas Absolutes und Wahres glauben, das nicht verändert werden braucht. Er kann seinen Katholizismus nicht als das präsentieren, was er eigentlich ist: ein maskulines Regelwerk des Zusammenlebens unter Menschen, das ein paar Jungs in Buchform erklärt haben, als die Völker angefangen haben, sich in Städten zusammenzutun. Sie mussten irgendeine Umgangsform finden, auf so einem engen Raum, und ohne sich persönlich zu kennen, und ohne sich nach einer zufälligen Begegnung jemals wieder zu sehen. Es ist ganz spannend: Die Völker sind da in unterschiedlichen Stadien, je nachdem, wie sich die Erdplatten entwickelt haben, auf denen sie nun gerade leben. Es gibt schon noch viele, die an Wahrheiten glauben – also an gegebene Formen, die nicht verändert werden können. Und viele, die diese Wahrheiten benutzen, um ihre Bequemlichkeiten und Machtansprüche zu behaupten. Es gibt zum Beispiel Stämme und uralte Säblerinnen in Afrika, die davon ausgehen, dass Frauen überall auf der Welt beschnitten werden – dass das so gehört. Die rennen da wie selbstverständlich in ihren eigenen Tod oder in ihr eigenes Desaster. Da kommt man schon ins Weinen als Europäerin. Und ich meine immer, dass man gerade den Büchern und den Ritualen ansehen kann, dass sie entworfen sind. Viel deutlicher können Zeichen doch kaum sein!“ Auf das Wort genau kommen auch schon die Cocktails angeflogen. Dana bedankt sich und schnuppert an beiden, bevor sie für Mariann sichtbar die Worte sacken lässt. Sie braucht Zeit und merkt dabei, dass dies nicht ihr Philosophieabend werden wird. Sie ist viel zu sehr mit Marianns Präsenz beschäftigt – obwohl sie ihre Gedanken spannend findet und natürlich selber genau weiß, dass Lebensräume anders aussehen können, als man denkt. Sie will dort aber nicht hin – jetzt nicht oder noch nicht:
„Dieses Afrika scheint dir am Herzen zu liegen … Wann warst du denn das erste Mal da und was hat dich so gepackt?“
Mariann sieht nicht häufig Augen, die so beschäftigt sind, die sie überall ansehen, weiter schweifen und wieder zurückkommen und immer noch suchen. Sie kann nicht genau sagen, ob das Danas natürlicher Zustand ist, oder ob es an ihr liegt. „Ich war als Studentin in Namibia und habe ein bisschen im Quarzsand herum geschaufelt, für einen Solarzellen-Hersteller – ich bin Geologin. Ich fürchte allerdings, dass es nicht Afrika ist und die Kulturen, die dort gelebt werden … Es sind für mich die toten Materialien, die nicht dein Ding sind.“
Danas Ohren gehen sofort ein Stückchen herunter.
„Mein Leben hat allerdings ganz anderes mit mir vorgehabt. Es hat mich nicht im Sand spielen lassen, so wie ich es für eine gute Idee gehalten hatte“ – und so wie sie nun über ihren Stuhl verteilt liegt. „Es hat mich zu den Menschen gesteckt.“
„Da gehörst du auch hin! Trotz allem!“ Und dann erst fängt Dana an, darüber nachzudenken, wie sie reagieren könnte: „Ich meine, trotz deiner Naturverbundenheit … die sieht man dir an, irgendwie.  Und sag mal, ziehst du eigentlich auch Handschuhe an? Du hast von hier aus schon drei Narben – gehen die noch weiter?“
Dana hat offenbar gemerkt, dass man sich an ihr gut ausruhen und frei nach Schnauze plappern kann, und Mariann mag sie jetzt nicht einfach nur Kind sein lassen. Das langweilt sie neben den meisten Menschen. Sie sieht nicht auf ihre eigenen Hände, als Bestätigung auf Danas Bemerkung, und sie fühlt sich auch nicht geschmeichelt, weil sich jemand so genau mit ihr beschäftigt. Sie sieht ihr weiter in die hellen Augen und fordert wortlos mehr von ihr – zum Beispiel warum sie meint, dass sie zu den Menschen gehört. Sie ist neugierig, wie Dana beobachtet.
Und Danas Reaktionen auf Forderungen sind selten intellektuell. Noch dazu sitzt sie recht planlos an diesem Tisch und in diesem Abend: „Du warst gestern nacht bei Renée auf dem Balkon …“ den Rest, mit wenig an, bekommt sie nicht mehr heraus. Und Mariann macht sofort dicht. Welchem Alter steht denn bitte die Tapsigkeit?!
„Sie hat mich spontan eingeladen.“ Mariann ist Renée nicht nur in der Größe ähnlich. Es wird hier für Dana kein Stück weiter gehen. Dana wird irgendwie wieder herausfinden müssen. Mariann geht noch nicht mal ins Nachdenken darüber, woher Dana das weiß. Sie schaut sie nur weiter offen an und nippt an ihrem Cocktail. Und auch Dana nimmt sich ihren Strohhalm, ohne allerdings einen Schimmer, wo sie den Abstand zu diesem Gespräch hernehmen soll, bei der Verbundenheit, die sie zu Marianns Körperlichkeit findet. Sie mag die Narben auf ihren Händen und empfindet sie als guten Anfang. Sie mag das T-Shirt mitsamt der Begründung. Und dann entschuldigt sie sich: „Sorry Mariann, ich bin ein bisschen unaufgeräumt heute.“ Von ihren letzten Tagen erzählt sie nichts. „Ich hatte ein paar lange Nächte.“ Sie nimmt noch einen Schluck. „Und du bist ungewöhnlich für diese Stadt. Die Leute sind viel digitalisierter.“
„Oh … vertu dich da nicht“ Ich verbringe die meisten meiner Mittagspausen drüben bei den Informatikern.“
Dana winkt sofort ab … „Das tun wir alle. Aber du vergisst abends nicht das Handtuch und die Sommerluft.“
Ein Lächeln bekommt Dana dafür, nicht mehr. Noch ein bisschen Zeit vielleicht, und Raum. Mariann ist die Ruhe selber. Dana merkt jetzt, dass sie Grund hat, ein wenig nervös zu werden, weil der ganze Abend noch vor ihnen liegt und ihr Zugang zu dieser Frau von Renée blockiert ist. Immerhin sieht sie es. Aber ihre Vorstellung von ihrer Partnerin, mitten in ihren erfahrenen und eleganten 50ern, neben dieser Wüstenfrau ist ihr zu anziehend, als dass sie sie einfach über Bord kippen könnte. Wenn sie nicht aufpasst, kommen ihr gleich die Bilder von den beiden Frauen mit nur einem Handtuch, und Mariann hat sie mehr als deutlich angesehen und sie darauf hingewiesen, dass sie ruhig ihren Kopf einschalten darf. Aber wohin eigentlich! Ihr eigenes Leben ist eine unüberschaubare Herausforderung im Moment, und an Renées kommt sie in diesem Sinne nicht heran. Was soll sie sein? Ehrlich? Frech? Spielerin? Sie wird Mariann heute nicht zum letzten Mal sehen – unabhängig von dem Atomprojekt, das sie jetzt gerade keinen Funken weit interessiert. Soviel spürt sie. Soviel Körperlichkeit hat sie selber. Und sie hat sich ja schon gehen lassen. Die ganze Zeit eigentlich. Sie hat Glück, dass ihr Instinkt nicht längst von Gedanken und Gefühlen überschrieben ist: „Ich war gestern nacht kurz bei Renée und hab dich gesehen. Du warst der kleine Schlag, mit dem ich ins Gesicht bekommen habe, dass ich von Renée sehr vieles nicht weiß. Sie erzählt nicht von ihren Wünschen. Und dann kommst du – und ziemlich freizügig, soweit ich sehen konnte. Renée hat dich noch nicht mal angekündigt oder vorgestellt. Sie hat dich doch zu mir geschickt, oder?“
„Das hat sie.“ Mariann denkt nicht daran, Dana die Phantasie von der Partnerin zu nehmen, die sie mit Sicherheit gerade aufbaut. „Allerding kenne ich Renée auch nicht.“ Mariann mag die offene Stimmung, die Dana ihr nun angeboten hat. Sie geht darauf ein: „Sie hat mich in ein Restaurant gelockt, in dem sie noch nie vorher gewesen ist.“
Dana kennt Renées Neigung zu Überraschendem: „Was wusste sie denn von dir?“
„Ich hab ihr mein Portfolio geschickt. Mit meinen Stationen in Afrika und Asien.“
„Und? Trefft ihr euch noch mal?“
Bei aller Zuneigung und bei allem Verständnis für ihre Mitmenschen – Mariann hätte Dana am liebsten sitzengelassen für ihre Unreife. Aber sie trifft sie damit nicht ganz richtig, denn Dana hätte diese Frage keineswegs an Renée gerichtet. Sie ist eifersüchtig, aber im ursprünglichen Sinn des Wortes und nicht auf Mariann und ihren Körper. Es ist gut, dass Mariann den Tonfall gerade noch aufnimmt und zögert: „Das habe ich noch von keinem Menschen sagen können. In meinem ganzen Leben noch nicht.“
„Erzählst du es mir, wenn ihr euch noch mal trefft?“
Mariann fällt wirklich aus ihren Wolken. Was ist denn mit dieser Frau los?!
„Ich habe bei Renée studiert und ich hab hier mit ihr schon gestanden, als das noch ein Kartoffelacker war. Ich weiß, was sie kann und wie sie denkt und welche Visitenkarten in ihrem Folder sind, aber ich habe keine Ahnung, wovon sie träumt.“
„Und das willst du von mir wissen?“
„Es kann sein, dass sie es dir erzählt.“
Mariann fällt noch mal. Diesmal ins Erstaunen. Und ein bisschen in die Achtung. Nach so einigen Atemzügen kündigt sie an „Sie ist Französin!“ und beide heben ihr Cocktailglas und prosten sich darauf zu.
„Sie hat eine Schwäche fürs Unbekannte und das Neue.“ Dana wirft Mariann dies hin, als käme die eine Eigenschaft automatisch mit der andern.
„Ich würde eher sagen, sie ist mutig und es ist ihr egal, ob sie jemanden schon mal gesehen hat oder nicht.“ Mariann erinnert sich amüsiert.
„Du stehst auf Frauen, oder?“
Im Prinzip weiß Mariann, dass sie Menschen dazu bringt, sich neben ihr fallen zu lassen. Sie verhält sich so, dass man ihr vertrauen kann, aber zumeist ist eben ein Arbeitsverhältnis involviert oder ihr Gegenüber hat irgendein Ziel und eine Richtung. An Dana kann sie überhaupt nichts erkennen. Sie weiß nicht, warum Dana diese Frage gestellt hat – wofür sie sich interessiert: für Renée oder für sie. Die Frage an sich hört sie selten. Ihr fällt dazu nur wenig ein: „Ich wüsste nicht mehr wohin, ohne die Frauen. Aber sag mal, ich verstehe nicht so ganz, was hier passiert … Obwohl  ich ahnen kann, warum es seltsam ist, dass Renée mich nicht angekündigt hat, wo ihr euch so lange kennt und Geschäftliches wohl weitgehend austauscht: Warum reden wir die ganze Zeit von ihr?“
Dana bleibt richtig der Mund offen stehen. Vor der fehlenden Antwort. Ihr Kopf hängt in der Warteschleife. Sie schichtet ihren Hintern um, aber es kommt nichts.
Und Mariann kann Dana nicht fragen, warum ihre Nächte so lang waren. Eigentlich interessiert sie nur das: „Wer bist DU eigentlich?“ Vom ersten Moment an.
Dana sieht ihr zwei, drei Herzschläge lang in die Augen und dann weiter über die Stadt und den Park – ein bisschen entgeistert, als wäre bisher alles komisch gelaufen. So hat es sich für sie nicht angefühlt: „Findest du, dass ich mich hier total seltsam verhalte?“
„Du kannst so seltsam sein wie du möchtest …“ Mariann kommt ihr dazu mit einem offenen Grinsen entgegen – „du bist es wahrscheinlich sogar gerne! Aber du gehst im Moment überhaupt nicht von dir aus. Das, was du sagst, setzt nicht diese zwei Menschen hier am Tisch zusammen.“
Der Satz trifft Dana auf so direktem Wege – „der hätte von mir sein können, ich schwör‘s dir! Das ist mein Satz! Sonst … an anderen Tagen.“
Aber Mariann schüttelt so gut wie den Kopf: „Du bist überhaupt nicht da! Und du sonnst dich in meinem Verständnis!“ Noch keinem einzigen Menschen hat sie dies so ins Gesicht gesagt. Es haben alle getan, aber so spezifisch war ihr eine solche Bemerkung noch nie herausgerutscht. Und Dana sinken jetzt ein bisschen mehr als nur die Ohren in die Tiefe. Sie weiß nicht, wo hingucken. Sie hat sich über die Zeit jedes einzelne Detail an Marianns Anzug und Körper angesehen, und in die Augen traut sie sich jetzt nicht mehr. Als Mariann ihr nach ein paar stillen Sekunden an den Unterarm fasst, um diesen anderen Weg auszuprobieren, sitzt diese große Frau auf einmal mitten und gänzlich vor ihr: mit einer Haltung, die alles Mögliche erwartet, und mit einem Kopf, der zugibt, sie nicht zu begreifen. Dana ist sich nicht sicher, welche dieser Eigenschaften sie aus der Spur bringt – die ganze Zeit schon, unabhängig von Renée. Sie kann sich auf gar keinen Fall zum dritten Mal entschuldigen, also nimmt sie einen Löffel, spielt damit herum und sieht kurz auf die eigenen Finger. Sie will wenigstens, dass Mariann sieht, dass sie denkt … „Ich weiß nicht, was das ist, dass ich hier einfach nur sitzen und mich wohlfühlen kann.“ Dana hatte es ein bisschen anders sagen wollen, aber so ist es wohl neben Mariann: „Das bist du! Es ist egal, ob wir über Renée reden oder über etwas anderes.“
Mariann sieht sie an und gräbt in den vielen Jahren und Erfahrungen – schaut auch kurz auf die eigenen Hände: „Dann sag mir, was du daraus machen willst!“ Es ist keine Forderung, eher ein lass es irgendwo hingehen, bitte! „Oder wir können uns auch wann anders treffen … wenn du ein bisschen geschlafen hast.“
Danach ist Dana nicht. Ihre nächsten paar Tage werden um Nénoah kreisen und nicht um diese Frau. „Ich will jetzt noch nicht nach hause. Aber ich brauche auch Renée nicht. Du hast natürlich Recht! Ich wollte mich nur nicht noch mal entschuldigen.“ Diesmal hilft es ihr ein bisschen, ihr Gewicht zu verlagern. Sie umfasst ihr fast leeres Cocktailglas mit beiden Händen und rückt es in die Nähe von Marianns, in die Tischmitte: „Ich würde gerne wissen, was du dein Leben lang gemacht hat, dass du jetzt soviel Einladung abstrahlst!“ Sie schafft auch wieder den Blick in Marianns grüne Augen – diese sitzt genauso in ihrem Stuhl wie beschrieben und schickt Dana das Herz in die neugierige Hose:
„Ich habe anderen Menschen das einfache über die Straße Gehen, das Arbeiten und das Genießen im Nirgendwo etwas leichter gemacht. Und zumeist in Afrika. Ich sage immer wieder, es waren bloß die Haare: Ich bin weithin sichtbar und beschreibbar als die Person, die vielleicht weiß, wo es diese Woche frische Birnen gibt.“
„Das ist das Erste, was die Leute wissen wollen?“
„Es ist das Erste, was sie fragen, weil sie hungrig ankommen. Wissen wollen sie, wie die Gegend funktioniert und wovon die Menschen leben. Und wenn man ihnen dann erklärt, dass sie nicht so gut funktioniert, wollen sie wissen, wo die entsprechenden Wachmänner stehen. Es sind Europäer – sie denken in strukturierten U-Bahn-Netzen und aufgeräumten Schreibtischen.“ Mariann hat schon so oft erklärt, was sie in ihrem Leben getan hat …
„Ist dein Schreibtisch aufgeräumt?“ Dana kann sich Marianns Alltag bestens vorstellen.
„Ja. Ich versuche möglichst nichts auszudrucken und ich versuche auch die komplexen Strukturen noch mit Kreide an die Tafel zu kritzeln. Die Leute steh´n drauf. Kreidebilder sind ganz gut im Kopf zu behalten. Ich hab zwar die Tafel in meinem Besprechungsraum selber gekauft, weil ich nicht so sicher war, wie die Atom- und Sicherheitsbauer auf den Old-School-Schiefer reagieren – sie ist auch mit einer Leinwand und einem Hightech-Bedienboard für die Beamer getarnt. Die Leute waren aber alle in der Schule und fühlen sich auch als Erwachsene noch gut aufgehoben, wenn man die Dinge mit ein paar Kreidestrichen erklären kann.“
„Das stimmt! Wir haben die Stadt auch nur mit ein paar Linien und Worten präsentiert. Es war zwar ein Computermodell, aber es war einfach!“
Mariann lässt sichtbar ein paar ihrer Muskeln locker – es sind die ersten Worte, die Dana von sich selber gibt! Sie nimmt jetzt, genauso wie Dana, ihr Glas in die Hände und rückt neugierig zur Tischmitte – bestellt sogar mit einem geübten Blick den Kellner dazu: „Wie hast du dich denn in dieses Projekt ziehen lassen? Ich meine, wie hast du dich das getraut? Nehmen wir noch zwei? Was Rauchiges für den späteren Abend?“
Dana nickt nur, während sie schon denkt, und überlässt Mariann die Wahl … „Ich hatte überhaupt keinen Plan. Renée hat mich im dritten Semester erwischt – alles, was ich bis dahin konnte, war mit dem Computer umgehen und Pflanzen und Bücher auseinander pflücken. Ein bisschen basteln vielleicht. Und es ging ja zunächst nur um eine Präsentation. Da sagt man nicht nein. Ich hätte ihr auch eine Raumstation auf den Mars gebaut. Das ist meinem Rechner völlig egal. Die Hose ist mir erst auf den Boden gegangen, als wir den Auftrag dann bekommen haben und ich eine Weile später die Maschinen tonnenweise mit dem Stahlbeton hab rollen sehen. Die bauen das wirklich dahin! Das war vor kurzem noch ne Bleistiftzeichnung! Dana macht das entsprechende Gesicht dazu. „Aber irgendwie verteilt sich die Verantwortung auf ganz viele Menschen. Man denkt zwar die ganze Zeit: Mein Gott, hoffentlich funktioniert das!, aber die Einzelteile sind alle in Ordnung: die Kupplungen funktionieren, die Aufzüge, die Telefonleitungen, die Klospülungen … Und wenn das große Ganze nicht hinhaut, muss es eben weiterentwickelt werden. So sind die Plattformen gedacht: Sie schränken nicht ein. Sie  machen auf. Ich hab Renée vollkommen intuitiv und hungrig zugesagt.“
Mariann ist mittendrin und begeistert: „Die Stadt verteilt sich ein bisschen so wie der ganze Planet – die Leute sammeln sich an ganz bestimmten Stellen – da, wo alles durchkommt oder wo irgendwas aufhört und was anderes anfängt.“
„Wie Karies an den Zähnen, sagen wir immer!“
Mariann nimmt gelöst die beiden frischen Cocktails entgegen. „Ich bin vor einem halben Jahr hier angekommen und dachte, das gibt‘s doch gar nicht – die Leute küssen sich nicht! In meiner ersten Woche habe ich kein einziges Paar gesehen. Die Stadt eignet sich einfach nicht dazu. Man steht entweder im Mittelpunkt, wie auf einem Podium, oder in der Wüste. Und dann hat mir jemand die Clubs gezeigt – das Innenleben der Stadt und die Dächer – also war ich ein bisschen beruhigt. Aber trotzdem: Es passieren zuwenig Unfälle hier. Ihr habt das zu gut gemacht. Es ist zu aufgeräumt. Man hat zuwenig Sex. Ich dachte immer schon, Afrika wäre schwierig. Vielleicht bin es auch nur ich …“
Dana schaut ein wenig überrascht auf Marianns Cocktailglas und schätzt ihren Alkoholpegel ein. Er dürfte, wenn sie nicht nachmittags schon getrunken hat, niedriger sein als ihr eigener, bei der Körpergröße.
Aber Mariann sitzt stetig und bequem – sie zaudert kein bisschen: „Die Leute essen gesund, rauchen kaum, sie wollen erfolgreich sein, tun das Richtige … Ich treibe mich, seitdem ich hier bin, jede Woche im Arms ´n´ Arses herum und habe noch kein einziges Mal das Bedürfnis gehabt, etwas Unüberlegtes zu tun – ich nenne es mal so. Trotz diesem Namen! Kennst du den Laden?“
„Klar.“ Dana kennt so ziemlich jeden Club der Stadt. Dieser hier ist der Women Only im Quartier Créa und er steht voller lederner, verrauchter Clubsessel und Sofas, auf deren Armen und Lehnen geflegelt werden darf.
„Ich werde hier auch von niemandem am Kragen gepackt und aufs Sofa geworfen!“ Ihre guten 75 Kilo halten sich dabei am Tisch, als wären sie zu nichts Selbstverständlicherem geboren. „Und so langsam beginne ich, daran zu glauben, dass Menschen, entgegen der Worte, die man so hört, nur in Ausnahmefällen Sex haben!“ Mariann schert sich auch nicht um die Ohren der Nachbartische. „Ich hab mich total gefreut auf die Frauen, als ich in die Stadt gezogen bin. Afrika ist wirklich, wirklich schwierig. Obwohl ich dort überwältigende Begegnungen erlebt habe. Es kann einem dort als Weiße passieren, dass man neben seinem Motorrad an einer Wasserstelle steht, mitten im gleißend hellen, staubigen Nirgendwo und aus dem Nichts taucht eine pechschwarze und wunderschöne, bunt geschmückte Frau auf, die einen ansieht, als wäre man die Erscheinung des Monats und als müsse man in die Mitte gestellt, umtanzt, befächert, beschenkt und vielfach geschwängert werden. Sie meinen es nicht so. Ich weiß nicht, wie sie es meinen. Aber sie sehen einen an, als wüssten sie es. Es ist ein körperlicher Kontinent. Und es ist ein brutaler Kontinent, der keine Fragen stellt. Die paar Frauen, die tatsächlich in meinen Laken gelandet sind, hatten alle Angst. Das ist eine intensive, ungewöhnliche Kombination – der Sex und die Angst vor einer undurchschaubaren Umgebung. Sie gehören eigentlich nicht zusammen. Ich hab selber nur einmal Angst gehabt: auf einer Farm im Süden, neben einer Witwe und Herrscherin über viele Quadratkilometer – da hab ich mich nicht ausgekannt.
Ich glaube, ich habe mich noch nicht wirklich akklimatisiert in deiner Stadt, Dana. Ich weiß nicht, was die Frauen hier wollen. Ich erkenne ihre Blicke nicht.“
Dana braucht erstmal einen guten Schluck lang, um die ganzen Bilder zu verarbeiten. Vor allen Szenerien will sie sich die Angst vorstellen, in dieser Kombination, neben dieser großen, gelassenen Frau. Es ist intensiv!
Mariann sieht, dass Dana noch nicht so weit ist. „Ich habe schon seit vielen Jahren eine recht reizvolle Phantasie: Ich würde gerne mal mit einer europäischen Frau in meinen Armen in Kabul in einem Zimmer, an einem Loch in der Hauswand stehen und über die dunstige Stadt schauen. Diese Zärtlichkeit und Freiheit erleben im Kontrast zu der Sicherheit, mit der man als Afghanin dafür gesteinigt werden würde. Es ist fast eine Gemeinheit, das in diesem Land vorzuschlagen – die Frauen dort sind gepeinigt genug –, aber ich glaube, dass man selten so hautnah erfahren kann, wie ungleich Menschen untereinander sind und wie gefährlich unsere Entwürfe und Denkweisen werden können, und auch wie viel Glück man hat, wenn man sich einfach verlieben und den eigenen Talenten nachgehen darf.“
Dana ist fasziniert, aber auch stutzig, weil sie sich eben schwarze Frauen in Marianns weißen Laken vorgestellt hat: „Hast du mit schwarzen Frauen geschlafen? Oder mit Musliminnen?“
„Nein. Nie. Das halte ich in vielen Länderecken für praktisch unmöglich. Die hätten auch mehr als nur Angst vor dem Ungewissen. Sie hätten realistische Todesangst, und das geht nicht. Für beide nicht. Die sind auch alle verheiratet. Und wenn sie verwitwet sind, weiß ich nicht, was das heißt. Trotz den vielen Jahren nicht. Als ich losgezogen bin, dachte ich auch noch, das sind doch genauso Menschen und Frauen wie wir, und ich war total neugierig. Aber inzwischen ist Afrika für mich tabu. Selbst Amerika. Menschen unter Religionen sind für mich tabu! Atheistische Mandelaugen nicht.“ Mariann schickt ihr warmes, schelmisches Grinsen durch die ganze Lounge. „Religionen sind für mich das Synonym für Unveränderlichkeit. Und das will ich in meinem Leben nicht haben, und schon gar nicht in meinem Bett. Wenn die Liebe meines Lebens an irgendeine Wahrheit glauben würde, an irgendeine absolute und unumstößliche Überzeugung, hätte ich ein Problem. Ich müsste sie wahrscheinlich aufgeben.“
„Vielleicht ist es das, was du an den Frauen hier nicht erkennst – diese Veränderlichkeit?!“ Dana ist vollkommen überrascht von dem eigenen Geistesblitz. Hätte sie angefangen zu denken, wäre sie darauf nie gekommen.
Aber Mariann wischt die Idee mit Leichtigkeit beiseite: „Die Veränderungslust ist immer das Erste, was ich an einem Menschen sehe – an ihrem Gang und an der Suche in ihren Augen. Wenn ich da die Flexibilität einigermaßen in der Nähe einer Ruhe finde oder einer Kompetenz in irgendwas, bin ich zuhause.  Renée lässt sich auf Dinge ein – zum Beispiel. Das hört man schon am Telefon.“
Dana nickt hier nur.
„Was ich in den Clubs aber nicht sehe, ist, wo die Frauen hinwollen. Ich meine es gar nicht generalisiert. Ich hab sie mir schon einzeln angesehen, und es war bisher keine dabei, die wirklich etwas Spezifisches haben wollte. Etwas Persönliches, das sie selber betrifft. Keine, die besseren Sex haben wollte, anderen Sex, andere Talkshows, andere Schuhe, andere Bücher, andere Frauen, andere Männer … Ich kenne ausschließlich Menschen, die sich ansehen, was da ist und manches davon nutzen – ziemlich vergnügt sogar – und die auch vieles verstehen wollen.
Ich habe, zum Beispiel, die Digitalisierung in dieser Stadt begriffen – die Reibungslosigkeit und die Trennung des Maschinellen von dem Chaotischen und Menschlichen. Sie ist gut. Gut für die Deutschen und die Europäer. Wir können uns prima dran halten. Aber es gibt ja auch Menschen, die unbedingt Geigen bauen wollen. Die den perfekten Klang erzeugen wollen. Oder die unbedingt mit einem bestimmten Pferd soundso reiten wollen – wie kein anderer. Ich habe nur in den letzten sechs Monaten keinen von ihnen gesehen oder gehört. Keine, die ihr Bierglas auf den Tisch knallt und nach süßeren Äpfeln verlangt oder nach Sex, der so rüpelhaft gut funktioniert, dass sie dabei Rücksicht auf ihren Mann nehmen muss. Ich habe hier noch keine einzige persönliche Frechheit entgegengenommen und keine Phantasie, bei der mir mal kurz der Mund aufgeht. Und, zum Beispiel, auch keine Frau, die mit Philip Roth schlafen will und ihm nach seiner Bitte um einen Mouthern Force Fuck mit einem ordentlichen Hefter Klaviernoten vom Nachttisch die goldenen Zähnchen vermöbelt! Und das mitten in Europa! Wo es schon alles gegeben hat! Und wo die Frauen könnten, wenn sie wollten! Sorry – ich hab ihn gerade gelesen … Ich mag ihn ganz gerne. Er sagt, wie es ist und hat vermutlich trotzdem noch nie von einer Frau den Vogel gezeigt bekommen. Er wird sich beständig wundern, denke ich.“ Mariann schlürft sich unter Grinsen durch die Eiswürfel und Minzblätter und schichtet dabei ihre langen zwei Beine um … „Die Frauen, denen ich begegne, können sehr genau angeben, was sie heute und morgen konsumieren möchten. Was ich aber nie höre, ist: Ich will meine Geige 100 Meter unterm Meeresspiegel in einer Höhle ausprobieren und meinen Mann dort verzaubern. Oder ich will sehen, wie meine blutjunge Partnerin mit Baufahrzeugen umgeht, die in der Größe von Mehrfamilienhäusern an ihrer Nase vorbei rollern – ich will sehen, ob ihr dann vielleicht mal die Bleistiftkritzeleien aus den Fingern gleiten. Oder ich möchte mal hundertprozentig egoistisch sein, wenn ich mit jemandem schlafe – nur um es mal auszuprobieren – und am liebsten vor einem versammelten Bantu-Stamm, als exotische Inspiration! Die Wünsche, die ich höre, sind fast nie persönlich. Sie erlauben kaum einen Zugriff auf einen Menschen. Ich kann gar nicht sehen, ob da im Club mal eine dabei ist, die ich spannend finde.“
Dana kann ihr zwar sehr gut folgen, kommt aber schon wieder mit den Bildern kaum nach und ist geneigt, zu überlegen, wann sie selber das letzte Mal einen persönlichen Wunsch geäußert hat – landet also wieder bei Adán und Nénoah, von denen sie nicht berichten möchte. Instinktiv nicht, im Moment. Aber dieses hier findet sie dringend fragwürdig: „Du redest ja recht unbefangen zu allen möglichen Themen … Meinst du, dass das alle so können und wollen – gleich auf Anhieb? Meinst du, dass dir alle Damen sofort erzählen möchten, welchen Sex sie haben möchten?“
„Ich red nur so gelassen über Sex, weil ich in der letzten Dekade selten welchen hatte – sobald das verkündet ist, geht´s ziemlich leicht. Ich kenne auch keine einzige weibliche Seele, die an einem Tisch unter vier Augen von sich behauptet, viel oder genug Sex zu haben.“
Dana will jetzt nicht auch von sich erzählen oder Mariann gleich fragen. Sie kriegt diese verbale alles-ist-möglich-Atmosphäre kaum richtig zu fassen. „Bist du mit all den Frauen eng befreundet, mit denen du offen geredet hast?“
„Nein. Ich gebe Menschen, die ich privat treffe, meist nach einer Weile zu verstehen, dass ich sie nicht begreife und nicht sehe, wer sie sind, und sie erinnern sich dann im Gegenzug daran, dass sie es selber auch nicht so genau wissen, sind mir aber nicht böse, weil ich ja keine Wunder und Glanztaten erwarte. Ich erwarte überhaupt nichts, außer einem kleinen Zugang zu einem Menschen, und der ist selten zu finden.“
Wie Mariann diese etwas trübsinnige Feststellung mit ihrer genussreichen Körperhaltung an ihrem süßen, vielschichtigen Cocktail entlang verbindet, sieht Dana nicht so recht. Es scheint ihr fast, als wäre dieser kleine Gedanke angebracht: „Hast du dich gerade das erste Mal seit langem bei jemandem ganz persönlich beschwert??“ Danas komplette Zahnreihen kommen dabei zum Vorschein und kurz darauf auch Marianns.
„Ich denke schon.“ Sie geht sogar noch weiter: „Und ich mache dich – ganz persönlich – dafür verantwortlich, dass man sich in deiner Stadt fühlt, als würde man sowieso das Richtige tun, alleine weil sie zukunftsgewandt ist und schnell reagieren kann. Jede Änderung ist immer nur ein paar Mausklicks entfernt. Vielleicht braucht man hier gar nicht darüber nachdenken, wer man persönlich ist. Wo sollte ich meine Beschwerde also abliefern, wenn nicht bei dir?!“
„Also ich habe die Computer nicht in die Stadt getragen!“
„Aber du hast die einzelnen Funktionsteile einer Stadt auseinander gepflückt, damit sie sich separat entwickeln können. Du hast die Verkehrssorten auseinander gepflückt – also haben die Unternehmen die Kommunikationssorten auseinander gepflückt!“
„Um Gottes Willen, Mariann … Ich habe in Büchern geblättert. Die Natur trennt das alles in Kanäle auf, und es erschien uns logisch, also haben wir es so vorgeschlagen. Meine eigene Kommunikation läuft nicht im Entferntesten so organisiert wie eure. Ich hab in der Zeit, in der wir hier sitzen, sechs Vibrationsalarme bekommen.“ Dana tippt mit ihrem Zeigefinger auf das Handy an ihrem Oberschenkel. „Der Muskel darunter zuckt auch nachts, wenn das Handy gar nicht am Bein ist. Ich werde einfach rund um die Uhr filterlos überfallen. Von allen. Es war also wirklich nur eine Bleistiftzeichnung – seit den Mehrfamilienhaus-Treckern bin ich für nichts mehr verantwortlich!“ Der Cocktail schmeckt Dana immer besser. Sie bekräftigt ihre Aussage mit einem ordentlichen Sog durch den Strohhalm.
„Dein Schreibtisch ist also ein Drama!“
„Ich neige zu Stapeln und ich drucke gerne etwas aus … Aber ich hab was Persönliches für dich!“ Ob Dana nun vom Alkohol inspiriert ist oder von Marianns Bereitschaft, sich auch mal fallen zu lassen: „Ich mag Dinge nur, wenn ich sie teilen kann!“ Sie legt es mit einem kleinen, stolzen und überzeugten Ausdruck auf den Tisch, der besagt, dass sie diesen speziellen Wuchs ihrer Persönlichkeit ganz gut leiden kann, und dass er eigentlich alles ist, was man über sie wissen braucht. Es ist hier auch kein Zug am Cocktail nötig. Mariann nimmt ihn artig entgegen und beginnt sich sein Ausmaß vorzustellen.
„Heißt das, dass du nichts alleine tun magst?“
Dana hätte fast spontan Ja gesagt, kommt dann aber doch ins Grübeln – richtig mit Falten auf der Stirn. Sie geht der Reihe nach ihre Tagesstationen durch, ihre Reisen, ihre Familie – „ich bin Einzelkind!“ – und ihre Projekte. Nach einer angemessenen Weile spricht sie weiter: „Ich glaube, es heißt, dass ich Dinge, die ich zu zweit tue, wirklich teile und nicht nur parallel erledige. Filme gucke ich, zum Beispiel, alleine. Und dann renne ich los und stelle irgendwas mit der Stimmung an – ich bombardiere jemanden damit. Das ist für mich ein geteiltes Filmerlebnis.
Oder beim Essen: Da finde ich es spannend, mir etwas vom anderen Teller zu pflücken und zu berichten, wie das spezielle Etwas zu meinem Gericht passt oder wie es den Geschmack zerlegt. Ich mag diesen Einfluss. Deshalb ist auch das Klettern nicht so mein Ding. Es ist so eine Alleine-Aktion. Selbst in einer Seilschaft klettert man absolut alleine. Man braucht zwar die Sicherheit durch das Gewicht am anderen Ende des Seils, aber ich fühle mich trotzdem alleine dabei. Ich hab‘s ein paar Mal ausprobiert. Mir ist auch der Felsen nicht so sympathisch. Er ist nur da und tut nichts. Ich komme mit Wind und Wasser viel besser zurecht. Ich bin Surferin.“
„Ich verstehe. Das kann ich gut nachvollziehen.“ Man sieht Mariann an, wie glücklich sie jedes Mal wird, wenn jemand anderes von sich oder seinen Projekten erzählt und sie von ihrer ewigen Rolle ablöst. „Gab´s einen Punkt in deinem Leben, an dem du gelernt hast, dass Du das Teilen magst, oder war das schon immer so?“
Auch da muss Dana naturgegeben überlegen. Sie ist gar kein so großer Fan der eigenen Reflexion. Aber dies fällt ihr ein: „Ich hatte in der Grundschule einen besten Freund, mit dem ich im Wald Baumhäuser in die Äste gezimmert habe. Er ist nie erst hochgeklettert, um zu entscheiden, welcher der geeignete Baum ist. Ich fand das total bescheuert und lächerlich, weil man doch sehen muss, wie der Ausblick von oben ist. Aber er hat sich irgendwann einen Baum gesucht, in dessen Krone man praktisch von nirgendwo aus einsehen konnte – zumindest von keinem Fußgängerpfad aus, und das wurde natürlich unser Lieblingsnest. Wir konnten uns sogar lautstark unterhalten, ohne von jemandem entdeckt zu werden. Ein todsicherer Rückzugsort, wenn man jemandem eine Kröte ins Bett gelegt hat oder die Eltern mal wütend wurden. Ich war ziemlich beeindruckt von seiner Auswahl! Ich glaube, seitdem höre ich ziemlich gut zu, wenn jemand was Überdachtes vorzuschlagen hat. Und vielleicht nehme ich seitdem ja auch gerne fremde Einflüsse entgegen. Aber ich teile mindestens so gerne aus!“
Mariann sieht ihr dabei gerade und aktiv in die Augen – und weiter denkend: „Was tust du denn gerne alleine? Ohne jemandem davon zu erzählen oder jemanden zu überfallen?“
Und es scheint Dana nichts auszumachen, immer weiter zu denken – trotz des gespeicherten Alkohols. Sie überrascht sich selber mit der eigenen Antwort: „Schlafen!“ Und braucht nochmals ein paar Atemzüge für die Erklärung. „Vielleicht ist es natürlich, dass Schlafen und Träumen egoistische Angelegenheiten sind. Zumindest muss ich immer umdenken, wenn da noch jemand liegt … Oder ich habe noch nicht neben dem Richtigen gelegen. Was sagst du denn zum Schlafen? Zu zweit oder lieber alleine?“
Mariann mag die Leichtigkeit in Danas Stimme: „Ich fürchte, ich brauche den geeigneten Menschen, um dir das beantworten zu können. Es wird der richtige sein müssen, wenn man aus dem egoistischen Schlaf ein Erlebnis machen möchte.“ Die beiden werden sich unter Grinsen einig und schlürfen ein bisschen. „Aber ich bin mir nicht ganz sicher. Es ist eine gute Frage – ich werde sie mit nach Hause nehmen! Entschuldigst du mich für einen Moment?“
„Ja, gerne!“ Dana nimmt, neben allen Eigenarten von Mariann auch entgegen, dass sie tatsächlich auf ihre Zustimmung wartet, bevor sie sich zu den Toiletten aufmacht. Es hat sich ein bisschen nach Abschluss angehört. Dana ist sich zwar nicht sicher, ob es auch so gemeint war, landet aber automatisch bei den entsprechenden Gedanken, während sie der langen Frau hinterher sieht, bis sie am Eck hinter dem nackten Beton verschwindet. Die Musik schaltet in diesem Moment in etwas lautere und rhythmischere Lagen – der Barkeeper hat sich wohl von Marianns Abgang inspirieren lassen: Er läutet somit die Zeit für den Club ein und lockt die Menschen aus der Lounge. Dana lacht ihm zu und erhält seine Erwiderung mit einer winzigen Andeutung zum Tanz. Sie wird mit Mariann nicht einfach in irgendeinen Schwung fallen können, in irgendeine Bewegung, die sich aus einer Laune heraus ergibt. Aber sie wird sie wiedersehen. Da ist sie sicher. Sie will sich Marianns Suche nach den Gedanken von Menschen nicht entziehen. Im Gegenteil: Mariann wird sich jede einzelne Windung ihrer Persönlichkeit herauszupfen, sich ansehen und ungefähr dorthin zurückstecken, wo sie sie gefunden hat. Wie ungefähr lässt sich ein paar Minuten später an ihrem Gang ablesen: Mariann lässt Abweichungen zu und ihre Weiblichkeit fließt nicht an einer kurvigen Linie entlang, die bei einer Störung aus der bevorzugten Ordnung gerät. Sie wächst aus ihrer Aufnahmefähigkeit für das Material, das sie berührt, und aus dem Bewusstsein, dass sie jederzeit einen anderen Weg wählen kann. Und genau dieses setzt sich nun in Danas Kopf fest. Sie wartet noch bis Mariann wieder sitzt … „Ich weiß nicht, wann und wo wir uns das nächste Mal treffen werden …“
„Möchtest du?“
Dana möchte ihr weiter zusehen und sich so fühlen wie jetzt. „Ich würde dich gerne sehen, ja … Aber ich brauche zwei Tage für mich.“
„Ich bin neugierig!“ Marianns Instinkte geben ihr selber so deutlich eine Temperatur und eine Geschwindigkeit vor, dass sie Schwierigkeiten haben wird, mit den angekündigten zwei Tagen für sich umzugehen und vielleicht sogar herauszufinden, worum es in dieser Zeit gehen wird. „Ich wünsche dir zwei erfolgreiche Tage! Oder zwei gut strukturierte Tage – wie auch immer du sie brauchst!“
Dana hat keine Idee darüber, wie Nénoah hier anzubringen wäre. Sie wird auch Adán nicht von Mariann berichten – nicht in diesem Zustand. „Ich werde sie recht ordentlich hinkriegen, denke ich. Dank dir! Ich brauche Konzentration.“ Über das Wort ordentlich kann sie innerlich nur lachen. Das Kind und ihre Vorstellungen bis dorthin werden ein absolutes Desaster sein! Dana nutzt den Gedanken, um aufzustehen und sich von Mariann weg in die gedankliche und vertragliche Anstrengung zu begeben – die einzige, die sie im Moment klar vor Augen hat und die den Schlaf davor benötigen wird. „Lass mich zahlen! Als vorläufigen Trost für den zu runden Lauf in dieser Stadt!“
Es ist zwar originell, dass Dana diesen Bogen jetzt noch schlagen kann, aber er trifft so weit an ihrem Gespräch vorbei, dass er es schon wieder bezeichnet. Mariann dankt artig und beginnt hinter Dana und den Euronoten den Gang nach Hause und auf ein Wiedersehen mit neu gemischten Karten.

NÉNUVAR © 2014 H. E. Haarmann (UBIQE), Esslingen
eBook ISBN 978-3-00-041172-4
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